Les Femmes de l’Antiquité

by Anselm Kiefer

Material

Stahl, Gips und Farbe auf Fiberglas,;195 x 135 x 135 cm

Datierung

1999

Über das Kunstwerk

Anfang der 90er Jahre begann Anselm Kiefer intensiv die ganze Welt zu bereisen, unter anderem Israel, Ägypten, Brasilien, Zentralamerika, Australien und Indien. Dabei faszinierten ihn vor allem Orte, welche von grossem historischem Interesse sind und um welche sich mystische Legenden ranken. Diese Mythen und historischen Hintergründe prägten fortan sein Werk entscheidend mit. Seine ausgedehnten Reisen nutze er, um mehr über vergangene Kulturen zu erfahren und um Material wie getrocknete Pflanzen, Gräser und antikes Geschirr zu sammeln, welches er dann in seinen Werken verarbeitete.
Die aus Skulpturen und Bildern bestehende Werkserie „Die Frauen der Antike“ entstand aus diesem gesteigerten Interesse an der mystischen Vergangenheit. Kiefer wollte mit dieser Serie den Blick auf historische und mystische, weibliche Persönlichkeiten richten, deren Platz in der Geschichte vernachlässigt wurde. Einige dieser Frauen repräsentieren dämonenhafte, geheimnisvolle Figuren wie Pandora oder Lilith, andere stellen griechische Philosophinnen oder Poetinnen dar. Doch was sie alle verbindet, ist die Infragestellung der damals herrschenden Konventionen und Machtverhältnisse, was dazu führte, dass sie als widerspenstig und unfügsam abgetan wurden.
Für die bis zu 2 Meter hohen Skulpturen nutzte Kiefer weisse oder blaue, Hochzeits-ähnliche Kleider, welche er über Ständer zog und mit Glasfasern und Gips verfestigte. Jede Figur wurde individuell gestaltet und lässt auf die weibliche Figur schliessen, welche Kiefer darzustellen versuchte. Das Entscheidende dabei ist, welches symbolbeladene Objekt verwendet wurde, um den kopflosen Gestalten ein Gesicht zu verleihen. Kiefer sagte dazu: „Die Frauen haben keinen Kopf, weil ihre Geschichte in den letzten drei Jahrtausenden von Männern erzählt wurde. Poetinnen wie Sappho oder Telesilla kennen wir heute nur noch auf Grund von Zitaten von bekannteren, männlichen Poeten. Damit wollte ich dann sagen: ohne Kopf, sie sind von anderen definiert worden.“
Bei der hier gezeigten Skulptur handelt es sich wohl um eine der drei Erinyen, Rachegöttinnen der griechischen Mythologie. Die in der Unterwelt hausenden Erinyen werden als alte, aber jungfräuliche Vetteln beschrieben. Sie kleideten sich in graue Gewänder, die Haare waren Schlangen, ihr Geruch war unerträglich und aus ihren Augen floss giftiger Geifer oder Blut. Der von Kiefer verwendete Stacheldraht ist das entscheidende Indiz, welches auf die Schlangen verweist. Die Erinyen, so schlimm ihr Bild auch scheint, wurden allerdings auch verehrt und galten als Verteidigerinnen mutterrechtlicher Prinzipien. So trägt auch diese Figur zu Kiefers Grundidee bei, die vergessenen weiblichen Persönlichkeiten wieder ins Gedächtnis zu rufen und ihren Platz und ihre Würde in der Geschichte zu festigen. Damit reihen sich „Die Frauen der Antike“ nahtlos in sein Gesamtwerk ein, welches schon immer vom Zusammenspiel von Geschichte, Identität, Mythologie, Literatur und Kunst geprägt war.

Über den Künstler

Das Werk des 1945 in Donaueschingen geborenen, seit 1993 auch in Frankreich lebenden und arbeitenden, deutschen Künstlers gehört unbestritten zu den eindrucksvollsten Hervorbringungen der zeitgenössischen Kunst.
Die Entwicklung von Kiefers Werk zeigt auf, wie es labyrinthisch, vielgestaltig und dennoch kohärent den Erinnerungsspuren in der Geschichte der Menschheit nachspürt. Kiefer nutzt die unterschiedlichsten Bildmedien: Fotografie, Gouache, Aquarell, Gemälde, Skulptur, die Installation und das Buch. Ebenso vielfältig sind die Quellen, auf die er zurückgreift: antike Mythen, nordische Kulturen, die jüdische Mystik und Kabbala, kosmologische Entwürfe, alchemistisches Wissen, moderne Technologien und vieles andere. Beim Einsatz unterschiedlicher Techniken wird insbesondere Blei zum kennzeichnenden und gewichtigen Material in Kiefers Werk.
Kiefers zentrales Thema ist die Erinnerung, in dem Sinne, wie sich das Gedächtnis mit Erinnerung füllt. Die Gedächtnisarbeit stand in Kiefers frühen Werken unter der Fragestellung, wie man überhaupt noch ein ‚deutscher Künstler‘ sein konnte nach dem Holocaust und der Vereinnahmung der nationalen kulturellen und künstlerischen Tradition durch die Ideologie des Nationalsozialismus. Kiefer trauerte um diese verstellte Tradition. Anfang der achtziger Jahre erweiterte sich sein thematisches Gewebe: Der Verlust von Sinn, die Unmöglichkeit, Zugang zu ihm zu finden, wird ein Hauptthema. Und schliesslich sind es die Mythen vieler Kulturen – der jüdisch-christlichen, ägyptischen, orientalischen ebenso wie der germanischen und nordischen, die Kiefer anziehen und die er auf eigene Art verarbeitet. Kiefers Interesse für mythische Erzählungen, ‘vorwissenschaftliche’ Kosmologien und Mysterien zielt auf den Zusammenhang zwischen dem Mikrokosmos des Menschen und dem Makrokosmos des Universums, auf die Schöpfung der Welt und das Ordnungsprinzip, das ihr vorausgeht und sich mit ihr wandelt.